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DER CLUB DER DICKEN MÖRDER

von Klaus-Michael Vent

Hier sind so viele Leut',
denkt sich der dicke Mörder.
Wen davon ich wohl heut'
ins Jenseits beförder'?


Ich wusste weder, wie ich hierher kam, noch, was ich hier wollte.

Es war offensichtlich Nacht, und ich befand mich in der Altstadt - das schloss ich aus der mich umgebenden Dunkelheit und den um mich herum aufragenden schwarzen Silhouetten baufälliger Häuser. Straßenbeleuchtung gab es nicht; ich sah nicht einmal die Laternenmaste. Nun, die meisten Laternen in der Altstadt waren ohnehin durch die Steinwürfe der hier lebenden Rowdies demoliert worden.

Verflixt, dachte ich, wenn ich mich nur erinnern könnte! Was machte ich eigentlich hier?

Ich muss Ihnen gestehen, dass ich trotz meiner jungen Jahre nämlich leider sehr vergesslich bin. Das ärgert besonders meine Mutter, die mir stets gute Ratschläge gibt und dann böse und enttäuscht ist, wenn ich sie nicht befolge. Ich wusste zum Beispiel genau, dass sie mir verboten hatte, nachts allein spazierenzugehen, obwohl dieses Herumstromern zu später Stunde zu meinen Lieblingsbeschäftigungen zählt.

Ja, so war es wohl! dachte ich. Vermutlich war ich wieder einmal von zu Hause ausgerückt und trieb mich nun in der Altstadt herum. Es schien schon ziemlich spät zu sein, denn außer mir befand sich kein Mensch auf der Straße. Auch brannte in den Häusern kein Licht mehr, und kein Autoscheinwerfer zerschnitt die Finsternis, kein Geräusch störte die nächtliche Stille.

Es war tatsächlich so dunkel, dass ich kaum sah, wohin ich meine Füße setzen musste. Gelegentlich schaute ich aufwärts und sah ein kleines Stück dunkelblauen Sternenhimmels zwischen den windschiefen Dächern der baufällig wirkenden Bruchsteingebäude. Ich schaute auf mein linkes Handgelenk, um die Uhrzeit festzustellen, musste aber erkennen, dass ich meine Armbanduhr zu Hause vergessen hatte. In dieser Finsternis hätte ich allerdings die Zeiger und Ziffern wahrscheinlich ohnehin nicht sehen können.

Normalerweise hätte mir ein solcher Spaziergang großen Spaß machen müssen, aber schon nach wenigen Schritten fiel mir auf, dass ich jegliche Orientierung verloren hatte. Ich wusste nicht, wo konkret ich mich befand. Dabei war es höchste Zeit, nach Hause zu gehen und ins Bett zu steigen. Es mochte schon nach Mitternacht sein. Mama würde toben!

Ich überlegte, ob ich an einem Haus klingeln und mich nach dem Weg erkundigen sollte, unterließ den Versuch jedoch. Die Bewohner der Altstadt sind, wie meine Mutter oft sagt, nicht sehr freundlich, und wenn man sie zu so später Stunde aus dem Schlaf schreckte...

Wie Sie wissen, ist unsere Stadt nicht besonders groß, und wenn man auf irgendeinem Weg zweimal links und danach zweimal rechts abbiegt, kann man ziemlich sicher sein, die Hauptstraße zu erreichen. Die Hauptstraße mit ihren Lichtern, Menschen, Geschäften, Autos, Ampeln und Leuchtreklamen...

Ich bog also nach einigen Metern in eine Gasse ein, in der es mindestens genau so schummerig aussah wie in der, durch die ich vorher gewandert war. Ich bekam es ein wenig mit der Angst zu tun. Wenn es hier wenigstens eine Telefonzelle oder eine Notrufsäule der Polizei gäbe! dachte ich.

Vorsichtig tastete ich mich an Häusermauern entlang und achtete darauf, nicht zu stolpern und notfalls den unvermeidlichen, überquellenden Mülleimern der Altstadt auszuweichen. Halt' dich von der Altstadt fern! hatte mich Mama immer gewarnt. Da ist nur Schmutz und Dreck!

Je weiter ich in die Dunkelheit vordrang, umso konfuser wurde ich. Ich hatte schon einige Male die Richtung gewechselt, ohne in eine Gegend zu kommen, die mir bekannt vorkam. Ich schwitzte stark, denn es war ja eine warme Sommernacht. In meiner Verzweiflung beschloss ich, mich irgendwo hinzusetzen und die Morgendämmerung abzuwarten. Mannhaft unterdrückte ich die ersten Tränen.


Plötzlich sah ich ein Licht!


Ein schwacher gelblicher Schimmer drang aus einem Kellerfenster, erleuchtete kaum zwei Quadratmeter der unheimlichen Umgebung, aber ich freute mich über diesen kleinen nächtlichen Wegweiser wie über die Kerzen am Weihnachtsbaum. Da war noch jemand wach, ein Mensch, der mir weiterhelfen oder vielleicht bis zum Morgen Unterschlupf gewähren konnte!

Vor dem Fenster hielt ich an, um meinen künftigen Helfer durch mein unvermutetes Auftauchen zu dieser Zeit nicht allzu sehr zu überraschen. Ich schaute durch die Scheibe und wurde kurz von einer nackten Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing, geblendet.

In dem Kellerraum mit den weißgetünchten Wänden stand etwa ein halbes Dutzend Männer um einen Tisch herum. Ungefähr noch einmal so viele hatten es sich auf Stühlen oder einem zerschlissenen Sofa bequem gemacht. Was mich einen Augenblick lang erstaunte, war das völlig gleiche Aussehen der Versammelten. Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber die Haarpracht eines jeden hatte schon zu schwinden begonnen. Alle waren zudem unglaublich dick, und ihre finsteren Mienen schienen gar nicht zu den feisten Gesichtern mit der rosa Haut, die sich über dicke Backen spannte, zu passen.

Nun, ich durfte in meiner Notlage nicht wählerisch sein.

Ich wollte gerade an das Fenster klopfen, als einer der Männer zu sprechen begann, und in seiner hohen Stimme lag so viel Bösartigkeit, dass ich unwillkürlich erschauderte und nicht wagte, ihn durch ein Geräusch in seiner Rede zu unterbrechen.

"Herzlich willkommen, Freunde und Brüder!" grinste er seine Genossen an. Das Grinsen gefiel mir ganz und gar nicht!

"Leider haben wir wegen dieser lästigen polizeilichen Nachforschungen unsere Aktivitäten in letzter Zeit stark einschränken müssen. Eine Schande ist das! Wo wir doch die Kunst des Mordens um eine interessante Variante bereichert und diese bis zur Perfektion entwickelt haben..."

Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Ich sah, wie mehrere der Dicken ihre Fäuste nervös öffneten und schlossen. Am liebsten wäre ich weggelaufen, konnte mich aber nicht von der Stelle rühren und blieb gegen meinen Willen wie angeleimt hocken.

"Ja", ergriff ein anderer Mann stolz das Wort, "die Kunst des Würgens und des Erdrückens! Haben wir auch sonst durch unsere Leibesfülle mancherlei Nachteile, so sind wir doch für diese Art des Mordens wie geschaffen." Er gestikulierte mit seinen großen, fleischigen Händen, und als ich mir vorstellte, wie diese Wurstfinger meine Kehle zuschnürten, wurde mir schlecht.

"Es ist wahrhaftig nicht leicht für uns, unsere Opfer zu fangen oder sie in die Enge zu treiben", fuhr ein dritter fort, "aber wenn wir sie haben..." Er lachte, und ich fühlte eine Ekelwelle in mir aufsteigen.

"Zuerst pressen wir ihnen die dürren Hälse zusammen, bis sie zu keiner Gegenwehr mehr fähig sind. Haben wir sie genügend geschwächt, reißen wir sie zu Boden, werfen uns auf sie und erdrücken sie durch unser Körpergewicht..."

Das Glas, das der Sprecher in der Hand hielt, zersplitterte unter dem Druck seiner Finger.

"Traurig ist nur, liebe Genossen", sagte Schwergewicht Nummer Vier, "dass die Natur die dünnen, kleinen und leichten Menschen, mit denen wir uns am liebsten beschäftigen, mit schlanken, schnellen Beinen ausgestattet hat. Aber mehreren von uns dürfte es gelingen, selbst ein solches Wild zu stellen - und der körperliche Kontakt mit dem bedauernswerten, zappelnden und röchelnden Wesen ist immer wieder ein herrliches Erlebnis, das sogar noch die Freuden der geschlechtlichen Vereinigung übertrifft!"

Die Zuhörer lachten und strichen sich über ihre gewaltigen Bäuche.


Und dann sah einer mich!


Er deutete auf das Fenster und stieß einen schrillen Schrei aus. Meine Erstarrung löste sich von einer Sekunde zur anderen, und ich legte einen Rekordspurt vor - bis ich gegen die Wand prallte, die plötzlich aus der Schwärze vor mir in den Himmel stieg.

Ich spürte den Schmerz nicht, wirbelte herum und versuchte mein Glück in der entgegengesetzten Richtung. Hinter mir klappte eine Haustür auf und zu. Satzfetzen wie "den kriegen wir" und "den Kerl erwürgen" drangen an mein Ohr und beschleunigten meine Füße.

Ich bin einer der besten Turner meiner Klasse und renne jedem Gleichaltrigen davon, aber ein Blick über die Schulter zeigte mir, dass meine Verfolger aufholten. Sie bewegten sich völlig lautlos durch die gespenstisch leere Straße, und das beunruhigte mich mehr, als wenn sie Lärm verursacht hätten. Es mochte sinnlos sein, um Mitternacht in der Altstadt um Hilfe zu rufen, aber ich versuchte es trotzdem.


Ich versuchte es!


Nur ein Krächzen kam aus meinem Mund, und ich sparte meine Luft zum Laufen. Geh' nicht in die Altstadt! hatte mich meine Mutter immer gewarnt. Da sind doch so viele Rowdies...

Wie sehnlich ich mir wünschte, nun statt der dicken Mörder diese Gassenjungen auf den Fersen zu haben! Dann konnte ich hoffen, mit einem blauen Auge und einigen Kratzern davonzukommen, während ich nun schon förmlich die Finger spürte, die meinen Hals in tödlichem Würgegriff umschlossen. Verzweifelt suchte ich nach einem Versteck, sah aber weder Hauseingänge noch Lücken zwischen den Gebäuden. Mir fiel der Witz von dem Betrunkenen ein, der sich um eine Litfasssäule herumtastet und sich für lebendig begraben hält.

Welch eine Idiotie, in diesem Moment an Witze zu denken! Es ging um mein Leben!

Ich murmelte ein Gebet nach dem anderen, während ich endlose, kilometerlange, dunkle und mir völlig unbekannte Straßen entlanghastete. Der Schweiß lief mir in Bächen über den Körper. Hinter mir hörte ich die Mörder etwas von "umbringen" und "erdrücken" rufen.

Niemand kam mir zu Hilfe, kein Gesicht zeigte sich an irgendeinem Fenster (um ehrlich zu sein: ich konnte in den schwarzen Wänden, die mich wie ein Tunnel umgaben, gar kein Fenster ausmachen), kein Mensch bemerkte die nächtliche Jagd.


Da, ein Loch!


Heilige Maria, Mutter Gottes... Mama sagt immer, ein kleines Gebet hilft in jeder Notlage... Ich fühlte Holz unter meinen Fingern, das Hindernis vor mir mochte sich um einen Zaun handeln - mit einer der für die Altstadt so typischen Zaunlücken...

Ohne lange zu überlegen, zwängte ich mich hindurch, und noch tiefere, undurchdringliche Schwärze umgab mich. Ich hörte die Dicken, vor denen ich noch höchstens fünf Meter Vorsprung gehabt hatte, enttäuscht aufstöhnen und vor Wut schnauben. Die Zaunlücke war zu eng für sie - ich hatte sie abgehängt!

Erleichtert, aber immer noch stark schwitzend, tastete ich mich weiter und kam schließlich auf einen breiteren Weg, der nicht ganz so finster war und mir sogar bekannt vorkam. Ich atmete auf. Die Gefahr war gebannt. Ich war den Dicken mit heiler Haut entkommen. An der nächsten Polizeinotrufsäule...

Erstaunt passierte ich Mauern mit dunklen Fenstern, düsteren Eingangsfluren oder geschlossenen Haustüren. Endlich wieder normale Häuser, selbst wenn es sich um die Bruchbuden der Altstadt handelte! Ich war gerettet!


Und dann sprang er mich an!


Seine Gestalt löste sich aus einem der unbeleuchteten Hauseingänge und warf sich mit erstaunlicher Behändigkeit auf mich. Mehr als zwei Zentner schienen an meinem Hals zu hängen, und ich wurde mit unwiderstehlicher Gewalt zu Boden gezogen. Ich sah nichts mehr außer einer gewaltigen dunklen Masse, die sich über mich legte, und spürte unerträgliche Hitze und ein gewaltiges Gewicht auf meiner Brust. Ich wollte die Arme meines Gegners wegzerren, griff in weiches, nachgiebiges Fleisch, das sich schon mehr wie Pudding anfühlte.

Ich entsann mich einiger Kampftricks aus der Zeit, als ich noch in der Juniorenmannschaft des städtischen Judoclubs war, und schaffte es, die Masse von mir zu wälzen. Schnell rollte ich mich zur Seite, warf mich in der Dunkelheit herum und kam auf dem dicken Mörder zu liegen. Ich schlug zu wie ein Wahnsinniger und legte mein ganzes Gewicht in die Hiebe, bei denen meine Fäuste jedes Mal bis zum Handgelenk in die Körpermasse einsanken. Ich konnte das Resultat meiner Treffer in der Finsternis nicht sehen, aber was ich ihm verpasst hatte, müsste selbst für den Weltmeister im Schwergewichtsboxen ausgereicht haben.


Und wieder lief ich, bis meine Beine schmerzten, atmete keuchend, während der Schweiß auf meiner Haut zu trocknen begann.

Wieder eine Abzweigung, eine neue Gasse!

Ich stürzte hinein. Tränen liefen mir die Wangen hinab. Ich wollte endlich nach Hause!

Der Weg endete an einer Mauer. Mein Pech ließ nicht nach - eine Sackgasse! Ich drehte mich um und marschierte zurück. Zum Glück wurde es jetzt ein wenig heller. Dämmerte endlich der Morgen?

Was ich in dem diffusen Licht sah, gefiel mir weitaus weniger. Am Eingang der Gasse hatten sich meine Verfolger versammelt, und sie rückten nun in geschlossener Formation gegen mich vor, Seite an Seite, die ganze Breite der Gasse mit ihren Körpern ausfüllend.

Ich war am Ende meiner Kräfte und bekam kaum noch Luft. Langsam wich ich an die Mauer zurück. Nirgends eine Waffe! Müll, Steine, alte Bretter und anderes Zeug, das sonst in jeder Ecke der Altstadt schlummert, war hier nicht zu finden.

Die Mörder näherten sich - mehr als eine Tonne Fett auf kurzen, säulenartigen Beinen. Meine unbeschreibliche Angst fand noch in einem halberstickten Schrei Ausdruck, dann waren sie über mir und pressten mich durch ihr Gewicht an die Wand.

Ich kämpfte wie noch nie in meinem Leben! Ich schlug, trat und stieß mit den Fingern dahin, wo ich im Halbdunkel ihre Augen vermutete. Ich kratzte, biss, kniff und rang - bekam aber nichts zu fassen als wabbeliges, nachgiebiges Fett, das ich durch den Stoff ihrer Anzüge zu spüren glaubte.

Ein ganzes Meer aus Schweißtropfen klebte an meinem Körper - oder war es schon Blut? Sie pressten die letzten Lebenstropfen aus mir heraus; besonders an den Oberschenkeln liefen ganze Flüsse herab. Ich spürte das Gewicht der ganzen beschissenen Stadt auf meiner Brust. Ich erstickte! Eine letzte Anstrengung - in Todesangst warf ich schreiend die Zentnerlast von mir - und das Federdeckbett fiel aus meiner Koje auf den Boden.


Meine Eltern polterten ins Zimmer, in Morgenmänteln und mit besorgten Gesichtern. Papa hob mich aus dem nassen Bett, und Mama ordnete das zerwühlte Kissen.

Durch eine Lücke in den dunkelblauen Vorhängen am Fenster sah ich, wie sich der Nachthimmel langsam rot färbte. Auf dem Holz am Kopfende meines Bettes sah ich Abdrücke meiner schweißfeuchten Hände, an der Wand war in Kopfnähe ein Stück Tapete abgerissen.

Während Mama mich ins Badezimmer führte, mir den Schweiß und den Urin von den Beinen wusch, betrachtete Papa erstaunt das zerknautschte Plumeau. Aus Löchern im Stoff schwebten kleine Federn durch das Zimmer und ließen sich sanft auf den Möbeln und dem Teppich nieder.

"Sieht so aus, als hätte unser Kleiner das Plumeau völlig zerfetzt", meinte mein Vater. "Diese Rabauken..."

"Du sollst dich doch in den warmen Sommernächten nicht so zudecken", ermahnte mich meine Mutter. "Ein Betttuch genügt auch, sonst schwitzt du zu sehr. Da muss man ja ersticken..."

"Bei der Hitze kann man Alpträume bekommen", warf Papa weise ein.

"Erklär' das mal dem Schlingel!" Mama zog mich am Ohr. "Der hört ja nie zu, wenn ich ihm etwas sage!"

Ich war tatsächlich in diesem Augenblick ein unaufmerksamer Zuhörer. Ich starrte zum Fenster hinaus und freute mich über die aufgehende Sonne, als hätte ich nie etwas schöneres gesehen.

 

Veröffentlichungen


  • FANTASIA
    EDFC
  • Der Murmler und andere Gestalten
    Buchprojekt der SUBSTANZ
    - 1997
  • SUMPFGEBLUBBER 63
    Clanzine der SUBSTANZ
    - 1997