Sam schlenderte langsam über den Rummelplatz. Es war Sonntag, und er hatte endlich einmal Zeit, alle Karusselle auszuprobieren und sich alle Schaubuden genau anzusehen.
Wie jedes Mal, wenn er die Kirmes besuchte, zog es ihn zuerst zur Geisterbahn. Es war für ihn immer wieder faszinierend, durch das dämonenkopfgeschmückte Portal in das Reich der Ungeheuer einzudringen. Und wie echt alles erschien! Wenn die Gorillas, Henkersknechte und Gespenster aus dem Dunkeln auf ihn zusprangen, bekam Sam jedes Mal eine Gänsehaut, und der Nervenkitzel war noch größer als auf dem "Polyp" oder der Achterbahn mit dreifachem Looping.
Doch als er heute der Geisterbahn zustrebte, bemerkte er erstaunt eine ihm unbekannte Schaubude, die in der Nähe des alten Gruselzeltes aufragte. In großen Lettern stand über dem Eingang:
TRETEN SIE EIN!
WERFEN SIE EINEN BLICK IN DIE WELT VON MORGEN!
ERLEBEN SIE IHRE EIGENE ZUKUNFT!
Die Bude war ziemlich schmucklos; auf ihren Wänden prangten nur Sonne, Mond und Sterne wie auf dem Gewand eines Bilderbuchzauberers, aber Sam war schon froh, nicht die sattsam bekannten Gemälde zu sehen, die man von den Wahrsagerzelten auf den Jahrmärkten her kannte und die alte Hexen mit Kopftüchern und Zauberkugeln oder -spiegeln darstellten, die sich dann auch meist in persona in den Zelten befanden (was einen Junggesellen wie ihn absolut nicht reizte) und einem für teures Geld nur Unsinn auftischten.
Auch hier war der Eintrittspreis ziemlich hoch, aber Sam war entschlossen, sich dieses neue Vergnügen nicht entgehen zu lassen, zumal jetzt am Morgen wenig Betrieb auf dem Platz herrschte und er sich noch nicht einmal in die Reihe stellen musste, um das Holzlattenhäuschen zu betreten. In der Tat war er im Moment sogar der einzige Kirmesbesucher, der sich für die Bude interessierte.
Also ließ er sich von dem Mann an der Kasse, der mit der zu kleinen Melone auf seinem dicken Kopf, dem gestreiften Pullover und der Zigarre im Mundwinkel an einen Box-Manager im Film oder - wie viele Kirmesarbeiter - an einen Gangster erinnerte, eine Karte geben und schritt gespannt auf den Eingang zu.
Als er den grobwollenen roten Vorhang zur Seite schob, starrte er dahinter in vollkommene Dunkelheit. Er machte noch einen Schritt. Der Vorhang schwang hinter ihm wieder zurück, und plötzlich traf ein harter Gegenstand wie ein Rammbock Sam an den Kopf. Er sah ein ganzes Feuerwerk explodieren, kippte langsam nach vorne und versank in der allesbedeckenden Finsternis.
Als er aufwachte, war der Schmerz fort.
Sam bemerkte, dass er auf einem gepflasterten Gehsteig lag, als er die Augen aufschlug. Vor sich sah er ein Paar schlanker, wohlgeformter Beine, die in kleinen, schwarzen Pumps endeten. Er hob den Kopf, sah an einem roten Kleid, in dem eine Traumfigur steckte, hoch und blickte in ein wunderschönes Gesicht, das von blonden Locken umrahmt wurde.
"Sam, Liebling, hab' ich mich erschreckt, als du so plötzlich hingefallen bist! Bist du auf einer Bananenschale ausgerutscht?" fragte die junge Frau, und jedes ihrer Worte klang wie süße Musik.
"Na, hoffentlich hast du dir nicht deinen Anzug zu sehr verschmutzt", fuhr sie fort, als er nicht antwortete und sie nur versonnen betrachtete. "Wir wollen doch heute noch zum Standesamt."
Sam sah noch genauer hin und stellte fest, dass er nie vorher ein besser aussehendes weibliches Wesen getroffen hatte. Blaue Augen, volle (sinnliche) Lippen, ein großer, aber offensichtlich fester Busen...
Er wusste zwar nicht, wie er aus dem Kirmeszelt herausgekommen war, aber ein Pochen in seinem Schädel ließ ihn vermuten, dass er vielleicht aufgrund des mysteriösen Kopftreffers, den er erhalten hatte, an einer Art (zeitweiligen?) Amnesie litt. Jedenfalls konnte er sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Er nahm die Dame bei der Hand und sagte: "Aber sicher, Schatz! Und am Wochenende wird Hochzeit gefeiert!"
Dann verblassten die Bilder; Sam blinzelte in plötzliches Scheinwerferlicht. Zwei Stimmen riefen: "Papa, Papa, wo bist du denn?" Verwundert stellte er fest, dass er in einem geräumigen, geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer, das sich angenehm von seiner bescheidenen Bude abhob, stand. Zwei kleine Jungen in kurzen Hosen rannten an gewaltigen Plüschsesseln vorbei auf ihn zu.
"Ach, Papi, da bist du ja!" jauchzte einer von ihnen. "Hier, lies die Zeitung! Die Lottozahlen!"
Sam sah sie sofort: sein ewig gleicher Tipp. Auf der Couch lag ein zerknitterter Lottoschein. Er hob ihn auf. Der Schein war auf seinen Namen ausgestellt. "Mensch!" strahlte er. "Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe sechs Richtige!"
Vor lauter Wonne schloss er für Sekundenbruchteile die Augen. Als er sie wieder öffnete, begann auch diese Szene irgendwie, sich aufzulösen. Plötzlich fand er sich in der Wartehalle des städtischen Krankenhauses wieder.
"Aha", dachte er. "Wird auch Zeit, dass mal was gegen meine Amnesie unternommen wird. Ich versäume sonst noch mein halbes Leben. Kann mich gar nicht erinnern, zwei solch prächtige Söhne zu haben." Auch das mit Sicherheit prächtige Erlebnis ihrer Zeugung befand sich nicht im Schatz seiner Memoiren.
Aber er war nicht der Patient, der hier behandelt werden sollte. Seine Frau schlurfte, gestützt von zwei Krankenpflegern in weißen Kitteln, auf ihn zu. Sie trug noch immer (oder schon wieder) das rote Kleid, aber ihr ehemals hübsches Gesicht war von eiternden Pickeln übersät, genau wie ihre Arme und Beine. "Oh Sam!" schluchzte sie. "Die Krankheit ist unheilbar!"
Er wollte seinen Ekel nicht zeigen, als sie sich nun anschickte, ihr verunstaltetes Medusenhaupt an seine breite Brust zu betten, wandte aber trotzdem das Gesicht ab.
Dann waren seine Frau und die Pfleger fort; nur die ältliche Krankenschwester, deren Häubchen ihn an eine Dose für Würfelzucker erinnerte, befand sich noch im Wartesaal. Er wollte ihr von seinem Gedächtnisschwund erzählen, aber bevor er wusste, wie ihm geschehen war oder wie er hierher kam, saß er in dem Wohnraum, in dem er eben - oder wie lange war es schon her? - seine Glücksnachricht empfangen hatte. Ein bulliger Wachtmeister trat gerade durch die Tür, die Schirmmütze tief in die Stirn gerückt.
"Aha, da sind Sie ja!" brummte er. "Als ich klingelte, hat keiner aufgemacht. Bin ich durch die Hintertür gekommen."
"Darf ich Sie mal fragen, was Sie in meinem Haus wollen?" knurrte Sam, dessen Kopf langsam wieder zu schmerzen begann.
"Hm. Ich hab' 'ne Gerichtsvorladung für Sie. Handelt sich um Ihre feinen Söhne. Die sitzen mal wieder. Autodiebstahl."
"Aber die sind doch noch so klein!" Sam deutete es mit der Hand an.
"Sind Sie verrückt oder was? Klein! Burschen von einundzwanzig Jahren und einem Meter achtzig mindestens. Dass ich nicht lache! Oder wollen Sie mich vielleicht verarschen?"
Ein Gummiknüppel bohrte sich hart und Unheil verkündend in Sams Magengrube. Bevor der Wachtmeister sich zu weiteren Ausschreitungen hinreißen ließ, erklang die schwache Stimme von Sams Ehefrau aus dem Nebenraum; vermutlich der Küche, denn von dort kam der Bratkartoffelgeruch: "Sam, Henry hat gerade angerufen! Es ist schrecklich..."
Er wollte fragen, wer Henry war, aber ihr entsetzter Ton ließ ihn innehalten, bis die ganze Nachricht heraus war: "Halt' dich fest, Liebling! Die Firma, in die wir unser ganzes Geld investiert haben, hat Pleite gemacht!"
"Verdammte Scheiße...", brüllte er los, bevor die Dunkelheit über ihn hereinbrach. Jemand packte ihn an der Schulter. "Lassen Sie los, Wachtmeister!" schraubte Sam seine Stimme zu einem gefährlichen Flüstern herunter. "Ich habe jetzt keine Lust, mich mit Ihnen zu unterhalten. Und machen Sie gefälligst das Licht wieder an!"
"Was reden Sie sich für 'nen Mist zusammen?" erkannte Sam das grabestiefe Organ des Budenbesitzers. "Kommen Sie, Sie waren jetzt lange genug hier drin. Für den Preis können Sie nicht den ganzen Tag bleiben!"
Irgendetwas tickte in Sams Verstand. Er holte kurz aus; der Mann sah seine Rechte erst zu spät aus der Hüfte hochkommen. Sams Knöchel erwischten ihn mitten im Gesicht; der Kirmesmensch riss im Fallen den Vorhang beiseite und prallte mit dem Rücken gegen die benachbarte Würstchenbude, wo eine schmierige Bedienung gerade fettige Bratkartoffeln auf einen Pappteller häufte.
Auf dem Heimweg sah Sam ein nettes Fräulein in einem roten Kleid, das ihm sehr bekannt vorkam. Er rannte davon, so schnell er konnte und sprang geschickt über die Bananenschalen hinweg, die unverantwortliche Zeitgenossen gleich dutzendweise auf die Gehsteige dieser stillen Seitenstraße geworfen hatten...